Einleitung

Die Geburtenfolge spielt eine entscheidende Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung und der Art des Denkens. Frank Sulloway zeigt in Born to Rebel, dass Erst- und Nachgeborene fundamentale Unterschiede in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen aufweisen. Gleichzeitig führt die rückläufige Geburtenrate in Ländern wie Deutschland dazu, dass zunehmend Erstgeborene und Einzelkinder dominieren. Diese Entwicklung hat weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf Kreativität, Innovation und zwischenmenschliche Kompetenzen. Mithilfe des multiperspektivischen AURIS®-Persönlichkeitsprofils lassen sich diese Zusammenhänge greifbar machen und methodisch untersuchen.

1) Die Geburtenrate in Deutschland lag im Jahr 2023 bei 1,35 Kindern je Frau. Dieser Wert gibt an, wie viele Kinder eine Frau im gebärfähigen Alter durchschnittlich zur Welt bringt. Die niedrige Geburtenrate liegt unter dem sogenannten „Bestanderhaltungsniveau“ von etwa 2,1 Kindern pro Frau. Dieses Niveau wäre notwendig, um die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung konstant zu halten.

Quelle: https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Bevoelkerung/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVII1a.pdf?utm_source=chatgpt.com; Zugriff: 01.02.2025

Geburtenfolge und Persönlichkeit

Nach Sulloway zeichnen sich Erstgeborene statistisch relevant durch eine konservative Grundhaltung und eine stärkere Orientierung an bestehenden Strukturen und Machtverhältnissen aus. Diese Eigenschaften lassen sich auf frühkindliche Prägungen zurückführen: Erstgeborene orientieren sich in ihrer primären Entwicklung stärker an ihren Eltern, was häufig zu einer ausgeprägten Autoritätshörigkeit und -gläubigkeit führt. Diese Tendenz, Autoritäten zu akzeptieren und sich an bestehenden Hierarchien zu orientieren, könnte – neben anderen Faktoren – die historische Entwicklung des Adels und das Prinzip der Primogenitur begünstigt haben.

Das AURIS®-Modell identifiziert bevorzugte Denkweisen. Eigenschaften wie Strukturieren, Planen, Organisieren und das Festhalten an Traditionen werden im grünen Quadranten abgebildet. Im blauen Quadranten finden sich analytische, rationale, technikaffine Denkweisen wieder. Beide Quadranten zusammengenommen entsprechen in vereinfachter Weise der linken Gehirnhälfte. Erstgeborene neigen diesen Denkweisen signifikant häufiger zu, da sie als energiesparend gelten.

Nachgeborene hingegen grenzen sich mit höherem Energieaufwand ab. Sie müssen zur Erlangung von Aufmerksamkeit eine eigenständige, verhaltenskonsistente Rolle entwickeln. Dieses Differenzierungsbedürfnis fördert rebellische Tendenzen, kreative Potenziale, erhöhte Risikoaffinität und unkonventionelle Lösungen. Solche Merkmale spiegeln sich im gelben Quadranten (kreativ, abenteuerlustig, ganzheitlich) und im roten Quadranten (emotional, kommunikativ, zwischenmenschlich) wider.

Folgen rückläufiger Geburtenraten

Bei geringen Geburtenraten reduziert sich automatisch die Anzahl Nachgeborener. Damit steigt der Anteil derjenigen, die strukturellen und rationalen Denkstilen (Grün/Blau) zugewandt sind. Die Gesellschaft entwickelt sich zunehmend in Richtung Normierung, Kontrolle und Effizienz. Divergente Denkweisen, die potenziell „aus dem Rahmen fallen“, erscheinen unberechenbar und damit unerwünscht. So gehen Gelb und Rot, also kreative, emotionale und visionäre Denkansätze, zunehmend verloren – mit spürbaren Folgen für Innovationskraft, kulturelle Vielfalt und soziale Wärme.

Kindergärten und Schulen „er-ziehen“

Die Welt der institutionellen Kindererziehung soll planbar, kontrollierbar, berechenbar sein – und sie bedient sich dabei eines Vokabulars, das an Gärtnereibetriebe erinnert: Man zieht Kinder heran, wie man Pflanzen zieht. Was außerhalb dieses eingehegten, normierenden Er-Ziehungsrahmens liegt, gilt als Abweichung. Solche Abweichungen werden metaphorisch gesprochen entweder „herausgerupft“ oder im Sinne gesellschaftlicher Konformität „umgezüchtet“. Klassische Schulen fungieren dabei häufig als Indoktrinierungseinrichtungen, in denen ursprüngliche Begeisterung, kreative Eigenart und angeborene Neugier systematisch zurückgestutzt werden.

Gerald Hüther, renommierter Neurobiologe, weist immer wieder darauf hin, dass jedes Kind mit einem riesigen Entwicklungspotenzial und einer natürlichen Lernfreude geboren wird. Statt diese Ressourcen zu fördern, unterwirft das tradierte Schulsystem Kinder einem normierten Leistungs- und Verhaltensregime. In einem Interview mit dem Lehrerfreund vergleicht Hüther schulische Erziehung mit Dressur: Nicht das Werden einer Persönlichkeit steht im Vordergrund, sondern das Funktionieren im vorgegebenen Rahmen.

Er fordert deshalb ein Bildungssystem, das Kinder nicht „erzieht“, sondern in ihrer Entfaltung begleitet – indem es Begabungen sichtbar macht, Talente nährt und individuelle Neigungen fördert. Denn wo aus Genies von Geburt uniformierte Funktionsträger werden, verkümmert nicht nur das Individuum – sondern auch die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft, die ihre Vielfalt verliert, bevor sie reifen kann.

Erstgeborene unter biografischen Herausforderungen

Selbstverständlich sind Erstgeborene nicht ausschließlich den blauen und grünen Quadranten zuzuordnen. Die typischen Merkmale des gelben und roten Quadranten mit kreativen und zwischenmenschlichen Ausprägungen stehen grundsätzlich jedem offen. Die Frage ist nur: Was fördern Erziehungsberechtigte und Gesellschaft?

Die Nachkriegsgeneration fand sich nicht selten in einer existenziell bedrohlichen Situation wieder. Viele Kinder wuchsen ohne Vater auf, der im Krieg gefallen oder traumatisiert war. Erstgeborene übernahmen hier häufig früh Verantwortung, trugen zur Versorgung bei und entwickelten Eigenschaften, die ihnen später als Unternehmer, Selbstständige oder Gestalter halfen. Diese Biografien zeigen, dass auch strukturelle Denkstile mit Innovationskraft und Kreativität verbunden sein können – wenn sie aus Not heraus mit praktischer Intelligenz verbunden werden.

AURIS als Analyseinstrument der Geburtenfolge

Das AURIS®-Persönlichkeitsprofil liefert die methodische Grundlage, um die Auswirkungen der Geburtenfolge auf Denkstile sichtbar zu machen. Mithilfe des Vier-Quadranten-Modells lassen sich die kognitiven und emotionalen Präferenzen einer Person analysieren und in den Kontext organisatorischer wie gesellschaftlicher Dynamiken setzen.

Die vier Quadranten und ihre Relevanz im Überblick:

Grün (Struktur & Organisation): Typisch für Erstgeborene, die Verantwortung übernehmen und Stabilität schaffen.

Blau (Daten & Fakten): Ebenfalls ausgeprägt bei Erstgeborenen, die durch Rationalität und analytisches Denken geprägt sind.

Gelb (Kreativität & Ganzheitlichkeit): Stärker bei Zweit- und Drittgeborenen, die oft durch innovative und risikofreudige Ansätze auffallen.

Rot (Emotion & Interaktion): Ebenfalls typisch für Nachgeborene, die emotionale Verbindungen und kommunikative Fähigkeiten betonen.

Mit AURIS® lassen sich nicht nur individuelle Profile erstellen, sondern auch kollektive Trends analysieren. Dies ist besonders wertvoll, um gesellschaftliche Defizite, etwa in kreativen oder emotionalen Denkstilen, zu erkennen und gezielt Gegenmaßnahmen zu entwickeln.

Gesellschaftliche Implikationen

  1. Bildung und Förderung: Um die Lücken in den gelben und roten Quadranten zu schließen, müssen Bildungssysteme kreative und emotionale Kompetenzen gezielt fördern. Projektarbeit, interdisziplinäre Ansätze und emotionale Intelligenz sollten integrale Bestandteile der Ausbildung werden.
  2. Arbeitswelt und Wirtschaft: Unternehmen sollten bewusst auf Diversität in Denkstilen setzen. Mithilfe von Persönlichkeitsprofilen wie AURIS® können Teams zusammengestellt werden, die alle vier Quadranten abdecken, um so Innovationskraft und Resilienz zu steigern.
  3. Gesellschaftliche Balance: Eine Gesellschaft und in gleichem Maße auch eine Organisation, die primär auf Sicherheit und Regeln setzt, riskiert langfristig ihre Anpassungsfähigkeit und Schöpfer- bzw. Innovationskraft. Durch gezielte Förderung unterrepräsentierter Denkstile kann eine Balance zwischen apollinischer Ordnung (Grün und Blau) und dionysischer Schöpfungskraft (Gelb und Rot) erreicht werden.
  4. Praktische Anwendungen von AURIS®:

Existenzgründungen und Nachfolgen in Unternehmen: Gründer- oder Übernehmerprofile zeigen oft starke Ausprägungen im blauen und gelben Quadranten. AURIS® identifiziert sowohl die Stärken wie die Defizite, die durch Ergänzungen zu kompensieren wären

Führungskräfteentwicklung: Führungspersönlichkeiten, die emotionale Intelligenz (Rot) mit strategischem Denken (Grün) kombinieren und/oder trainieren, sind besser in der Lage, heterogene Teams zu leiten

Kulturelle Analyse: Organisationen können durch AURIS® analysiert werden, um festzustellen, welche Denkstile dominant und kulturprägend sind und wo Ergänzungsbedarf oder Entwicklungspotenzial (z.B. bei der Innovationskraft, strategischer Anpassungsfähigkeit, interdisziplinärer Zusammenarbeit) besteht

Fazit

Die Geburtenfolge und die damit verbundene Verteilung von Denkstilen prägen unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in weitreichender Weise. Mit der AURIS®-Methodik lassen sich sowohl kulturelle Passung als auch blinde Flecken in der Denkvielfalt sichtbar machen. Gerade ein Mangel an kreativen und emotionalen Perspektiven kann langfristig in eine einseitig funktionale „Verwaltungsgesellschaft“ münden. Um dem entgegenzuwirken, braucht es gezielte Impulse zur Förderung jener Kompetenzen, die über Struktur und Effizienz hinausgehen. Organisationen und Gesellschaften, die Vielfalt zulassen und fördern, können die notwendige Balance zwischen Stabilität und Erneuerung wahren – und damit ihre Zukunftsfähigkeit sichern.

Autor: Norbert W. Schätzlein, 2025

Bildquelle: KI-generiert mit OpenAI DALL·E, erstellt mit Unterstützung von ChatGPT

Quellen

Hüther, Gerald: Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen, München: btb Verlag, 2013

Hüther, Gerald: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt am Main: FISCHER Verlag, 2013

Schätzlein, Norbert W., Erkenne Dich selbst (2016-2023)

Schätzlein, Norbert W. et al., Wer bin ich und wer bist du? (2023)

Schätzlein, Norbert W. et al., Neue Köpfe braucht das Land (2024)

Schätzlein, Norbert W.: Auf der Suche nach der Wahrheit, Eine lebenslange Odyssee, Hamburg: Tredition, 2024

Schätzlein, Norbert W.: Kompass der Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung: Erfolg haben oder scheitern als Ergebnis persönlicher und organisatorischer Entwicklung und Weichenstellung, Hamburg: Tredition, 2021

Frank Sulloway, Born to Rebel (2007)

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