Gastautorin: Iris Baumgart, Personalfachkauffrau IHK

„War for Talents“ – sobald ich diesen Satz als Recruiterin/Personalreferentin höre, denke ich, dass ich mein Pferd satteln, die Ritterrüstung anlegen muss, um mich in den Kampf um die besten Talente für das Unternehmen zu stürzen. Und diesen Kampf natürlich am Ende auch gewinnen – ich will ja nur die Besten Talente im Unternehmen haben.

Doch oft frage ich mich – schöpfen wir tatsächlich das gesamte Potential an Möglichkeiten aus, um wirklich ALLE Bewerber, welche für uns interessant wären, anzusprechen?

Schauen wir uns erst einmal an, wie denn der klassische Kandidat aussieht, welchen wir als „Top Kandidaten“ oder „High Potential“ einstufen, für welchen wir in den „War for Talents“ ziehen würden.

Klar, m/w/d soll Erfahrung haben – damit die Kosten für die Einarbeitung, so gering wie möglich gehalten werden. Prinzipiell kann ja eh schon davon ausgegangen werden, dass nur ca. 60 % der Leistung während der Einarbeitungsphase abgerufen werden können. Heißt im Umkehrschluss, das Unternehmen investiert neben Lohn und Lohnnebenkosten sowie Kosten für Büro, Büroausstattung etc. nochmals 40 % in die Einarbeitung. Ein ganz schöner Brocken, den es natürlich gilt, eher niedriger zu halten und nicht noch weiter auszubauen, wenn m/w/d/ keine Erfahrung mitbringt. Na dann, ziehen wir mal weiter und schauen, ob sich da noch etwas Besseres findet.
Ab auf den B und C-Stapel mit den jungen, die gerade von der Hochschule/Ausbildung kommen.

Okay, dann wühlen wir uns mal durch den Stapel mit den „Erfahrenen“ Kandidaten. Hm, Erfahrung haben sie ja alle, aber oftmals stammen die Geburtsdaten aus der „Hippie-Zeit“, den guten 68ern, also liegen vor mir die Kandidaten der sog. „Best Ager“. Da nützt auch der aufgehübschte CV nichts mehr, wenn das Geburtsdatum bewusst weggelassen wird, denn so Pi mal Daumen, kann man das ja anhand von Schulabschlüssen und Berufserfahrung ausrechnen und spätestens in irgendeinem Zeugnis wird der Personaler fündig und weiß anhand des Geburtsdatums, welches dort steht, wie alt denn sein Kandidat nun tatsächlich ist.
Ja stimmt, die erfüllen das Kriterium der Erfahrung. Aber wahrscheinlich werden die eh bald krank und fallen dann lange aus, und teuer sind so Fachkräfte ja auch. Also eher auf den B- oder C-Stapel damit.

So ein bisschen erinnert mich diese Vorgehensweise an die Geschichte mit dem Hammer und dem Nachbarn von Paul Watzlawick. In dieser Geschichte geht es in erster Linie um Kommunikation und die Gedanken. Ein Mensch möchte ein Bild aufhängen, hat jedoch nur einen Nagel, aber keinen Hammer. Er überlegt also, ob er den Nachbarn fragt, ob dieser ihm seinen Hammer leiht. Aufgrund seines Gedankenkarussells kommt er immer tiefer in die Negativ/Abwärts-Spirale und hat immer neue Gründe parat, warum der Nachbar ihm den Hammer sicherlich nicht geben würde und er diesen daher erst gar nicht zu fragen braucht.

Ähnlich läuft es mit den Kandidaten der sogenannten „Best Ager“. Wir wissen weder, ob uns der Kandidat 50+ noch der Mitte 30-jährige irgendwann aufgrund Krankheit oder Unfall ausfallen. Und wenn, wie lange.

Wenn die eher jüngeren oder älteren Kandidaten außer Acht gelassen werden, bleiben im Schnitt also ein, maximal zwei Kandidaten, die bereits ein wenig Berufserfahrung gesammelt haben, aber nicht direkt von der Uni sind, im „besten Alter“, wo man (eigentlich) auch noch keine Angst haben muss, dass demnächst vielleicht lange Ausfälle aufgrund längerer Erkrankung auftreten.

Ist dies wirklich der richtige Weg, um den besten Kandidaten für das Unternehmen zu gewinnen oder verschwende ich hier nicht einfach sehr gute Talente, weil sie „vermeintlich“ nicht ins Bild des „perfekten Kandidaten“ passen.

Die Autorin Silke Wöhrmann hat mal einen sehr guten Artikel geschrieben „Mit 20 zu jung, mit 30 zu schwanger, mit 40 zu teuer und mit 50 zu alt“ – frei nach dem Motto „irgendetwas ist immer…“

Auch das Argument mit den Krankheiten – stimmt dies wirklich? Denn einschlägige Studien beweisen, ältere Arbeitnehmer sind in Summe nicht häufiger, wenn dann aber länger krank als jüngere. Zu diesem Ergebnis kommen Studien im Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen BKK).
Es verschiebt sich lediglich. Die jüngeren Arbeitnehmer fallen mehrmals im Jahr vielleicht für kürzere Zeit aus, da die lieben Kinderlein den 37.ten Schnupfen aus der Kita mitgebracht haben und den gibt’s meistens im Family-Pack. Die älteren Arbeitnehmer haben das durch – die Kinder längst aus dem Haus. Ja, vielleicht erkrankt dieser Mensch auch – dann jedoch nicht so häufig, jedoch länger. Schaut man sich die Statistik an, liegen die Ausfalltage bei beiden Gruppen ungefähr gleich.

Auch am jüngsten Arbeitnehmer, den ich irgendwann einmal einstelle, „nagt der Zahn der Zeit“ und auch dieser wird irgendwann ins Rentenalter kommen.

Ist es nicht daher vielleicht besser, mir erst einmal die Struktur des Unternehmens anzusehen und dann zu schauen, ob es vielleicht nicht Sinn macht, einem Absolventen, der noch vor Enthusiasmus sprüht und frische und neue Ideen von der Hochschule mitbringt, eine Chance zu geben? Bestenfalls kann ich diesem noch 1 bis 2 Jahren den „erfahrenen Hasen“ zur Seite stellen. Ja, das kostet Geld und Zeit, das ist richtig. Allerdings kann ich zum einen so eine Bindung ans Unternehmen schaffen, da die enge Zusammenarbeit auch Vertrauen schaffen kann und im besten Fall sogar Freundschaften entstehen können.*) Ja natürlich, es kann passieren, dass ich diesen Menschen vielleicht nach zwei, drei Jahren wieder verliere, weil er „Karriere“ machen möchte.  Hier stellt sich jedoch die Frage, warum zieht er weiter? Habe ich ein funktionierendes Employer Branding? Angebote für Fachkarrieren? Nicht jeder möchte schließlich Karriere mit disziplinarischen Führungsaufgaben haben? Hätte ich ihm Möglichkeiten bieten können, diesen Menschen weiter zu fördern und zu fordern?

Auch die sogenannten „Best Ager“ im Bewerbungsprozess zu berücksichtigen, macht durchaus Sinn. Das Argument „kostenintensiv“ stimmt nur auf den ersten Blick. Diese Menschen bringen gleich mehrere Dinge mit, die mit Geld nur schwer aufzuwiegen sind. Zum einen die Erfahrung, ja Berufserfahrung sind Euros, das ist richtig. Jedoch wissen diese Menschen meistens ganz genau was sie wollen oder andersrum gesagt, auch ganz genau was sie nicht mehr wollen. Sie haben sich „die Hörner“ bereits abgestoßen, Lorbeeren erarbeitet und suchen eher die Erfüllung in der Aufgabe und der Tätigkeit, als vielleicht im schnellen Emporklettern der Karriereleiter. Ein weiterer Vorteil dieser Gruppe – sie haben ihre Krisen alle schon erlebt, ob beruflich oder privat und werden nicht gleich nervös, wenn ein kleiner Sturm aufzieht.

Wenn diese ganzen Argumente berücksichtigt werden, stellt sich heraus, dass im Teich der Kandidaten doch mehr Fische schwimmen, als es auf den ersten Blick erscheint. Es lohnt sich daher ein zweiter Blick und so erhöht man die Chance, den für das Unternehmen besten Kandidaten zu bekommen.

Iris Baumgart, 11.12.2020

*) Übrigens und statistisch valide:

Sich bildende Freundschaften in Unternehmen erhöhen die Verweildauer.

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